Prix Kunstverein 2019
Anna Neurohr (*1980)
Der Kunstverein Biel verleiht dieses Jahr den Prix Kunstverein an die Künstlerin Anna Neurohr (*1980, CH) und setzt damit sein Engagement zur Förderung des regionalen Kunstschaffens fort. Die Jury setzt sich aus Mitgliedern des Vorstandes des Kunstvereins zusammen und ehrt mit dem Förderpreis jährlich eine vielversprechende und eigenständige Position aus Biel und Umgebung. Neben dem Preisgeld erhält Anna Neurohr die Möglichkeit, im Rahmen der Cantonale Berne Jura im Kunsthaus Pasquart den aktuellsten Stand ihres künstlerischen Schaffens zu präsentieren.
Anna Neurohr setzt sich in ihrem künstlerischen Werk mit der Beobachtung der Natur auseinander und stellt diese ins Verhältnis zu ihrer eigenen Wahrnehmungswelt. Auf Wanderungen, Bergbesteigungen und beim Durchstreifen des alpinen Geländes findet die Künstlerin ihre Inspiration, die sich in Zeichnungen, Malereien und Fotografie mal symbolisch aufgeladen, mal als nüchterne Komposition zeigt. Es entstehen fragile Konstrukte, die zwischen Erzählung, Empfindung und Abstraktion schwanken.
Die Wahl des Mediums steht in enger Verbindung mit Anna Neurohrs Schaffensprozess. Das Auge folgt den Spuren der Berglandschaft, dem Lichteinfall, den Farbtönen des Steins und den Bergkanten, die sich scharf vom Himmel abgrenzen. Mit Helldunkelkontrasten schichtet sie Ebenen und Volumen, schafft Konturen, Umrisse und Schattierungen, wodurch sie fiktive Landschaften artikuliert und Scheinräume entstehen lässt. So erinnern die gezeigten Werke Zeichnung 55, 56 oder 57 an die Kartographie und Geodäsie des 18. und 19. Jahrhunderts, deren Genauigkeit sich aufgrund unterschiedlicher Blickwinkel auf die topografischen Gegebenheiten und der daraus resultierenden perspektivischen Verschiebungen, schwierig gestaltete. In Neurohrs Landschaften scheinen diese Ungenauigkeiten absichtlich angelegt zu sein und äussern sich in ihrem Sinn für das Unbestimmt-Bestimmte. Was entsteht, ist das Unterwegssein des zeichnerischen Prozesses, wobei die vollendete Arbeit vom Fragmentarischen gekennzeichnet ist und das Anfängliche im Werk immer sichtbar lässt. Ihre Arbeiten legen diesen Mechanismus des Bildwerdens offen und erlauben indirekt einen Blick auf ihre produktive Einbildungskraft. Die Umsetzung von Wirklichkeit zeigt sich hier in den von der realen Umgebung losgelösten zeichnerischen Strukturen, die sich im Laufe des Schaffensprozesses als eigenständige Formen weiterspinnen und die die BetrachterInnen zu einer eigenen ‚Weltsicht’ zusammensetzen müssen.
In ihrer neusten grossformatigen Papierarbeit Insomnia, 2019, befasst sich die Künstlerin mit der Bildwerdung des Transformationsprozesses vom Zustand des Bewusstseins ins Unbewusste. Mit der Auseinandersetzung eines alltäglichen Rituals des Zubettgehens und Einschlafens visualisiert Neurohr Erlebtes und Seinszustände im Stadium des Halbwachseins in innere Landschaften. Die Formen, Linien und Striche verflüssigen sich in ein unbestimmtes Gebilde, das die vagen räumlichen Strukturen durchdringt und auflöst. Die Künstlerin schafft einen Empfindungsraum, in dem die Bildteile in einem prekären Verhältnis zueinanderstehen; in dem die Geborgenheit des imaginierten inneren Raumes in Rauch und Flammen aufgeht und sich architektonisches Volumen ins Ungreifbare transformiert.